A Peek into Paradise

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Manfred Pabst, 30. August 2015
Originally appeared in the NZZ am Sonntag

Still liegt die Bibermühle im Licht des Altweibersommers. Hier, unweit vom schaffhausischen Ramsen, direkt über dem Rhein, residiert Heribert Tenschert. Es war ein langer Weg dahin. 1947 wurde er als Kind einer schlesisch-böhmischen Flüchtlingsfamilie in der Waschküche eines bayrischen Schlosses geboren. Von früh an war er Büchern zugetan: den Welten der kindlichen Vorstellungskraft, die sich in den Texten auftaten, aber auch ihrer Materialität. Schon als hungriger Student der Altphilologie, Romanistik und Germanistik in Freiburg im Breisgau begann er, mit bibliophilen Werken der klassischen Moderne zu handeln. Als Selfmademan, wie er im Bilderbuch steht, arbeitete Tenschert sich zu einem der weltweit bedeutendsten Kenner, Sammler und Händler von Handschriften und frühen Drucken empor. Er ist ein universal gebildeter Connaisseur, ein Systematiker und Spieler zugleich, aber auch ein barocker Geniesser: Auf seinem Anwesen, das eine ehemalige Mühle samt Nebengebäuden sowie eine schlossartige Villa umfasst, die 1918 von Albrecht Sulzer erbaut wurde, beschäftigt er nicht nur einen Stab von wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, sondern auch einen französischen Spitzenkoch. Er ist ein Mensch in seinem Widerspruch: Mit unendlicher Geduld kann er sich über kostbare mittelalterliche Bücher beugen. Doch wenn er in seinem Jaguar über Land braust, kann einem angst und bange werden. Heribert Tenscherts besondere Leidenschaft gilt seit zwei Jahrzehnten den illuminierten gedruckten Stundenbüchern – also Andachts-Fibeln für hochgestellte Laien – aus dem 15. und 16. Jahrhundert. Es handelt sich dabei um reich illustrierte, öfter auf Pergament als auf Papier gedruckte Prachtwerke, die vor allem in Frankreich für Mitglieder der Fürsten- und Königshäuser angefertigt wurden. Sie dienten eher Repräsentationszwecken als dem täglichen Gebrauch und wurden entsprechend geschont. Deshalb haben sich viele von ihnen über beinahe ein halbes Jahrtausend so gut erhalten.

Spiegel der christlichen Kultur

Tenschert sammelt ohnedies nur Exemplare in bestem Zustand. Deshalb übertrifft seine mittlerweile auf 375 Exemplare angewachsene Kollektion von Stundenbüchern aus den Jahren 1487 bis 1586 nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ die Bestände der Bibliothèque nationale in Paris und der British Library in London – zusammengenommen, wohlgemerkt. Das war ein Lebensziel des Antiquars, und das hat er nun erreicht. Ehrgeizig war er schon immer. «Die schwarze Sucht des Hirns: Siegen», heisst es in Brechts Tagebuch. Diesen Satz würde Heribert Tenschert wohl nicht für sich gelten lassen. Seine Sucht leuchtet in allen Farben. Zudem gibt er sich gern gelassen. Aber dass gewaltige Energien in diesem so herzlichen Sinnenmenschen wirksam sind – das ist nicht zu verkennen, auch wenn er sich behaglich im Lehnstuhl in seinem Arbeitszimmer zurück- lehnt, ehe er zu erzählen beginnt. Der mit kostbaren Büchern und Bildern gesäumte Raum ist ein regelrechter Saal mit Statuen, Refektoriums-Tisch und einem gewaltigen, von einem geschnitzten Adler verzierten Lesepult. Doch auch dieser riesige Raum kann nur einen kleinen Teil von Tenscherts Schätzen beherbergen. In seinen Lagern stehen 250 000 Bände, allein seine Sammlung zum französischen 18. Jahrhundert umfasst 5000 Prachtexemplare. «Was mich an den frühen Stundenbüchern seit je begeistert hat», sagt Tenschert, «ist ihre unfassbare Schönheit. Da kommen Ästhetik und Spiritualität zusammen. Hier spiegelt sich die ganze christliche Kultur. Was die Kupferschneider und Buchmaler, die Setzer und Drucker in jenem Zeitalter als Gesamtkunstwerke auf kleinstem Raum realisiert haben, ist einzigartig.» Heribert Tenschert besitzt auch zahlreiche heilige Bücher aus der Zeit vor der Erfindung des Buchdrucks: illustrierte Handschriften aus dem frühen 14. Jahrhundert wie das Psalterium der Isabelle de Lens aus der Zeit um 1310 bis 1315. Dieses ist von besonderem Reiz, weil die Illustratoren die frommen Texte aufs Einfallsreichste konterkariert haben: mit Mischwesen aus Menschen und Tieren, mit in Bücher vertieften oder fechtenden Affen und etlichen reizvollen Allotria mehr. «Dieses Spannungsfeld gibt es auch in den frühen gedruckten Stundenbüchern», erläutert Tenschert. «Die Texte sind ja kanonisch und entsprechend einförmig – obwohl es auch da nicht unbedeutende Varianten gibt, wenn man genauer hinschaut. Aber das eigentliche Ereignis sind die Illustrationen. Was die Meister jener Epoche geschaffen haben, ist schon auf der handwerklichen Ebene unbegreiflich. Welche Augen, welche Pinsel müssen sie gehabt haben, um diese Miniaturen aufs Blatt zu bringen! Aber die artistische Brillanz ist nur das eine. Hinzu kommen die Tiefe der geistigen Durchdringung, die Fülle der Idee, das Geflecht der Anspielungen.» Wenig wissen wir über die Buchmaler jener versunkenen Epoche. Einige kennen wir mit Namen, die meisten sind erst durch Zuordnungen zu ihrer Identität gekommen: «Der Meister von so und so». Fest steht, dass die Prachtwerke, die Heribert Tenschert sammelt, oft in Werkstätten entstanden sind: Der Meister kümmerte sich um die Bildtafeln oder gar nur um die Gesichter; für den Faltenwurf der Gewänder, die vielen winzigen Vögel und Hasen, die floralen Ornamente waren Gehilfen im Einsatz. Hunderte, gar Tausende von Stunden müssen für jedes dieser kleinen Wunderwerke aufgebracht worden sein. Dass sie wirken wie aus einem Guss, ist ein Mirakel für sich. Ein Glück für uns Heutige ist, dass die kostbarsten, am aufwendigsten illustrierten Stundenbücher meist auf Pergament gedruckt wurden. «Pergament ist ein spröder Stoff», erklärt Tenschert, «der den Illustratoren viel mehr Widerstand entgegensetzt als das geschmeidigere Papier. Dafür ist er so gut wie unzerstörbar. Vergessen wir nicht, dass der fachgerechte Umgang mit alten Büchern erst im 19. Jahrhundert einsetzt!»

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Nur geschlossen zu verkaufen

Von einigen Stundenbüchern besitzt Tenschert mehrere Exemplare. Das lässt interessante Vergleiche zu, denn nie sind zwei Einzelstücke identisch. So sind die nicht kolorierten Kupfer - oder Holzschnitte oft von einer Feinheit der Schraffuren, die selbst der begabteste Maler nicht erreicht; er muss also gewisse Details übermalen. Was das illuminierte Exemplar an Leuchtkraft gewinnt, verliert es dann an Differenziertheit der Zeichnung. Die frühen gedruckten Stundenbücher erschienen in sehr kleinen Auflagen. Wie viele Exemplare ursprünglich hergestellt wurden, können wir nicht mehr eruieren. «In meiner Sammlung finden sich ‹Unica›, Rarissima und Rara», erläutert Tenschert. «Bei diesen drei Kategorien sprechen wir von erhaltenen Auflagen. Der Begriff ‹Unica› erklärt sich von selbst. ‹Rarissima› sind Bücher, die weltweit noch in zwei bis fünf Exemplaren vorhanden sind, als Obergrenze für die ‹Rara› gelten zwanzig Exemplare. Der ‹Bestseller› unter den frühen gedruckten Stundenbüchern hat es auf gerade einmal 24 erhaltene Exemplare gebracht. Da mutet die Gutenberg-Bibel von 1452/54 mit ihren 48 erhaltenen Exemplaren schon fast wie ein Massenprodukt an.» Heribert Tenschert hat seine Sammlung von Stundenbüchern akribisch dokumentiert – in einem neunbändigen Katalogwerk, auf eigene Kosten, ohne jede Unterstützung der öffentlichen Hand. Ohnehin steht er Institutionen skeptisch gegenüber. «Es ist ein grosser Irrtum zu glauben, Bücher wären in staatlichen Sammlungen am besten aufgehoben», sagt er. «Dort fehlen oft sowohl das Geld wie auch das fachkundige Personal. Ich finde, dass kostbare Werke dorthin kommen sollen, wo sie am besten gepflegt werden. Das ist der wirksamste Kulturgüterschutz.» Was aber soll mit dem Ganzen in weiterer Zukunft geschehen? Der passionierte Sammler schliesst nicht aus, das Konvolut eines Tages zu verkaufen. «Ich war mein ganzes Leben lang sowohl Sammler als auch Händler», sagt er; «in Sachen Trennungsschmerz kann ich ein gewisses Fachwissen vorweisen. Eines aber ist für mich gewiss: Ich gebe die Sammlung nur geschlossen ab. Denn in diesem Fall ist das Ganze unendlich viel mehr als die Summe der Teile. Wenn dieses einzigartige Ensemble auseinandergerissen würde, wäre zumindest ein Teil meines Lebenswerks dahin.» Doch wer könnte die Sammlung von Tenscherts Stundenbüchern überhaupt erstehen? In China und in den Golfstaaten gäbe es zweifellos potente Interessenten. Aber auf die zielt Tenschert nicht. Er möchte, dass sein Vermächtnis nicht in die Hände von Investoren oder Spekulanten gerät. Das Getty Museum in Los Angeles wäre ein Kandidat. Aber auch Interessenten in Frankreich, Deutschland und in der Schweiz kämen in Frage. Ganz billig ist die Sache nicht; schliesslich werden einzelne Spitzenwerke bei Antiquaren bereits für eine halbe Million Franken gehandelt. Unter 30 Millionen wird die Sammlung deshalb nicht zu haben sein. «Doch das ist geradezu wohlfeil, wenn man bedenkt, was ein einziges Werk von Jeff Koons kostet», sagt Heribert Tenschert lachend. «Natürlich würde ich mich freuen, wenn die Sammlung in meiner Schweizer Wahlheimat bliebe», sagt Tenschert. «Aber ich bin ein Unternehmer und kein Milliardär. Mein Geld steckt in den Büchern. Ich kann es mir beim besten Willen nicht leisten, meinen Besitz einfach zu verschenken.»

Heribert Tenschert